Weiter zum Hauptinhalt
Infografik: Sead Mujić
06.05.2023

Wann ist wieder Windstromwetter?

Jonas Stührenberg blickt recht häufig zum Himmel. Nicht etwa, weil sie zum Träumen einladen, sondern weil sie sein Forschungsobjekt sind. Genau genommen sind es noch nicht einmal die Wolken selbst, die er beobachtet: Er interessiert sich für den Schatten, den sie werfen.

Jonas Stührenberg ist Ingenieur am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oldenburg. Er will herausfinden, wie gut sich der Schattenwurf von Wolken in Zukunft vorhersagen lässt, um abzuschätzen, wie stark sie Solaranlagen abdunkeln. Zusammen mit seinem Team hat er dafür zwischen Ostfriesland und Oldenburg ein Netzwerk aus rund 30 Kameras aufgebaut, kleinen kugeligen Apparaten, die mit ihrem Fischaugenobjektiv den Himmel beobachten und alle 30 Sekunden ein Foto schießen. Ein Computer berechnet, wie schnell einzelne Wolken ziehen und wann sie einen bestimmten Punkt in dem mehr als 100 Kilometer weiten Areal erreichen werden. Der Computer legt die Bilder von mehreren Kameras übereinander und berechnet so den Schattenwurf der Wolken zwischen Emden und Oldenburg etwa 20 Minuten im Voraus. Künftig soll er sogar eine Stunde in die Zukunft blicken.

Das Kameranetzwerk mit dem Namen „Eye2Sky" ist eine der neuesten Entwicklungen in einem relativ jungen Bereich der Meteorologie, der Energiemeteorologie. Sie beliefert die Strombranche mit aktuellen Wetterprognosen, damit die Betreiber von Solar- und Windparks, die Stromhändler und die Unternehmen, die die großen Stromverteilnetze unterhalten, wissen, was auf sie zukommt. Sonne und Wind sind heute wichtige Lieferanten erneuerbarer Energie in Mitteleuropa. Allerdings schwankt ihre Leistung bekanntlich mit dem Wetter. Stürmt es und ist der Himmel wolkenlos, dann liefern Solar- und Windparks mehr Strom, als die Deutschen verbrauchen können. Damit solche Schwankungen die Strombranche nicht unerwartet treffen, sind Vorhersagen wichtig.

Die Energiemeteorologie hat ihren Ursprung in Dänemark. Anfang der 1990er-Jahre gelang es Forschern des Risø DTU, des Nationalen Energielabors für Erneuerbare Energien in Risø bei Kopenhagen, Wetterinformationen so umzurechnen, dass man vorhersagen konnte, wie viel Energie die Windräder über den nächsten Tag verteilt liefern würden. Denn darauf kommt es schließlich an: Man will wissen, wie viele Megawattstunden ein Wind- oder Solarpark am nächsten Tag produziert. Von Interesse ist nicht, ob es stürmen oder regnen wird, sondern wie viel Energie sich in welchem Zeitraum ernten lässt, wann also welche Leistung zu erwarten ist. Insofern liefert die Energiemeteorologie eine aus dem Wetter abgeleitete „Leistungsprognose".

„Im Grunde hat die Meteorologie die Energiewirtschaft schon immer mit Wetterdaten beliefert", sagt Marion Schroedter-Homscheidt, Expertin für Vernetzte Energiesysteme am DLR in Oldenburg. Energiehändler mussten beispielsweise wissen, wie kalt es wird, um für die kommenden Wochen und Monate den Wärmebedarf von Gebäuden abzuschätzen. „Durch den Ausbau der erneuerbaren Energien ist in den vergangenen 20 Jahren aber vor allem der Strommarkt viel komplexer geworden – daher muss die Energiemeteorologie heute viel mehr in der Vorhersage der kommenden Stunden und Tage leisten." Derzeit werden in Deutschland Solarparks mit mehreren Hundert Megawatt Leistung errichtet, etwa der „Energiepark Witznitz" bei Leipzig, der es auf 650 Megawatt bringen soll – so viel wie ein Reaktorblock eines Atomkraftwerks. Wenn eine solche Leistung auf einen Schlag wegbricht, dann muss das Stromnetz so etwas ausgleichen können.

Verkehrsflugzeuge sammeln ganz nebenbei auf ihren Reisen wichtige Wetterdaten

„Je genauer wir den Zug der Wolken analysieren, desto besser lassen sich diese Schwankungen abdämpfen", sagt Jonas Stührenberg mit Blick auf sein Eye2Sky-Netzwerk. Vor allem kurzfristige Wettereignisse seien für die Energiemeteorologie noch immer eine Herausforderung.

Es ist beeindruckend, was die Energiemeteorologie heute schon leistet. So können Prognoseexperten mehr als 48 Stunden im Voraus auf wenige Minuten genau vorhersagen, wie viel Strom ein Solar- oder Windpark liefern wird. Manchmal liegen die Prognosen aber auch ein Stück daneben. Der Stoff, aus dem diese Prognosen errechnet werden, sind vor allem die meteorologischen Daten, die die großen europäischen Wetterdienste sammeln – hierzulande der Deutsche Wetterdienst (DWD). Der DWD trägt Windgeschwindigkeits-, Temperatur- oder Strahlungswerte von mehreren Hundert Messstationen aus ganz Deutschland zusammen. Hinzu kommen Messwerte von Wetterballons – oder von Verkehrsflugzeugen, die die Daten nebenbei auf ihren Reisen sammeln. Da die Flugzeuge große Teile der Atmosphäre durchfliegen, liefern sie ein umfassendes Bild der Wettersituation. Wie wertvoll diese Daten sind, wurde zuletzt während der Corona-Pandemie deutlich. „Weil viele Flugzeuge am Boden blieben, fehlten uns die Messwerte – die Wettervorhersagen wurden damals messbar schlechter", sagt Frank Kaspar, Leiter des Bereichs „Hydrometeorologie" beim DWD. Wertvoll seien aber vor allem Informationen, die die Meteosat-Wettersatelliten liefern. Aus einer Höhe von 36 000 Kilometern haben sie den besten Überblick über die Wetterküche Europas.

Die Geräte auf den Satelliten können die Sonnenstrahlung am Erdboden, den Wasserdampf in der Atmosphäre oder auch die Größe und die Geschwindigkeit von Wolkenfronten messen. Die Auflösung der Messgeräte liegt heute bei etwa einem Kilometer, was bei einer solchen Entfernung beeindruckend ist. Kleinere Wolken und vor allem auch deren Wolkenschatten können die Satelliten aber nicht erkennen.

Alle diese Daten fließen in die Großrechner der Wetterdienste.

Sie treiben mathematische Wettermodelle an, die mehrere Tage in die Zukunft blicken. „Unser Ziel ist es, so viele Daten wie möglich zu sammeln, um die Wettermodell-Rechnungen mit einem möglichst genauen Abbild der Realität zu starten", sagt Kaspars Kollegin Vanessa Fundel, Leiterin des Sachgebiets „Meteorologische Verfahrens- und Produktentwicklung".

Doch der Wetterbericht allein liefert noch keine Leistungsprognose. Dafür braucht es Experten, die die meteorologische Information in Megawattstunden übersetzen – etwa die Firma energy & meteo systems in Oldenburg. Sie liefert ihre Informationen an Stromhändler oder auch an die Stromnetzbetreiber. „Letztlich liefern wir für einen bestimmten Zeitpunkt und Ort einfach nur Zahlenwerte. Allerdings ist das für viele unserer Kunden sehr wichtig", sagt Geschäftsführer Matthias Lange. Denn im Strommarkt geht es um viel Geld. Der Stromhandel ist in Europa ein Termingeschäft. Kraftwerksbetreiber und Stromhändler bieten einen Tag im Voraus Strommengen an, die sie am nächsten Tag voraussichtlich liefern können. Produzieren die Solar- oder Windparks 24 Stunden später dann aber weniger Strom, muss der Händler kurzfristig Strom von anderen Kraftwerken oder Händlern nachkaufen, um seine garantierte Strommenge liefern zu können. Solche spontanen Zukäufe aber können extrem teuer werden. Insofern müssen die Leistungsprognosen sehr zuverlässig sein.

Matthias Lange sammelt dafür Daten aus vielen verschiedenen Quellen, um die eigene Leistungsprognose zu schärfen. „Eine falsche Prognose geht schnell in die Zehntausende Euro pro Tag", sagt er. Neben den Wetterdaten laufen im Oldenburger Büro ständig Messwerte aus den Solar- und Windparks seiner Kunden ein.

Trotzdem bleibt vor allem die kurzfristige Vorhersage für die Energiemeteorologen eine Herausforderung, weil es viele Wetterphänomene gibt, die plötzlich auftreten und die sich bislang nicht präzise vorhersagen lassen. Im Frühjahr und im Herbst bildet sich oft unerwartet Hochnebel, der sich wie ein graues Laken über die Landschaft legt. Reißt er plötzlich auf, steigt die Leistung von Photovoltaikanlagen sprunghaft an. Dann wieder kommt es vor, dass die Frühlingssonne den Schnee schmilzt, der viele Tage lang Photovoltaikanlagen bedeckt hat. Rutscht die Schneedecke dann um die Mittagszeit fast zeitgleich von Tausenden von Solaranlagen ab, versetzt auch das dem Stromnetz einen Stoß.

Solche Kurzfristschwankungen wollen die Energiemeteorologen künftig besser vorhersagen. Die Rede ist vom Nowcasting, einem Begriff, der vom englischen Wort Forecast, Vorhersage, abgeleitet ist. Da Wind- und Sonnenstrom einen immer größeren Anteil am deutschen Strommix haben, führen plötzliche Schwankungen der erneuerbaren Energien zu immer größeren Ausschlägen im Stromnetz. Wenn die Produktion eines großen Solarparks wegbricht, muss ein anderes Kraftwerkschnell seine Leistung hochfahren, damit das Stromnetz stabil bleibt. Es ist hilfreich, wenn ein Netzbetreiber so früh wie möglich darüber informiert ist. Das Problem mit dem schmelzenden Schnee auf den Photovoltaikanlagen beispielsweise soll künftig mit Kameras gelöst werden, die einige repräsentative Photovoltaikanlagen in einer Region überwachen. Wenn der Schnee dort zu rutschen beginnt, könnte das Überwachungssystem eine Meldung an die Prognose-Firmen schicken. „Präventiv statt kurativ", das ist das Motto für das Nowcasting der Zukunft: Statt in aller Hektik einen ganzen Solarpark abzuschalten, weil zu viel Strom im Netz ist, könnte man künftig zum Beispiel rechtzeitig große Stromverbraucher wie etwa Elektrolyse-Anlagen für die Wasserstoffproduktion vorwärmen und hochfahren.

Stefanie Meilinger macht Photovoltaikanlagen zum Strahlungssensor

„Darüber hinaus versuchen wir, aus dem Verhalten der Solaranlagen und Windräder dazuzulernen", sagt Matthias Lange – etwa beim Thema Eisregen. Auch dieser ist extrem schwer vorherzusagen. Zwar lässt sich aus meteorologischen Daten über die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur schon heute vorhersehen, dass es Eisregen geben könnte. Ob am nächsten Tag tatsächlich welcher fällt, weiß aber niemand genau. Geht dann tatsächlich Eisregen nieder, der die Rotorblätter der Windräder überzuckert, lässt sich das aus den Leistungsdaten der Anlage ablesen. Manche Anlagen verfügen über Heizungen, mit denen sie den Eispanzer abschütteln. Andere Windparks aber müssen dann abgeschaltet werden. Derzeit versucht Matthias Lange, die Leistungsdaten der Anlagen aus vergangenen Eisregenereignissen mit meteorologischen Daten zu verknüpfen, um künftig besser abschätzen zu können, in welchen Situationen und in welchen Regionen tatsächlich Eisregen auftritt und wie stark das die Stromproduktion drosselt.

Schwierig wird es für die Prognostiker auch, wenn sich auf See abrupt der Wind ändert, wenn nach einer Flaute ein Sturmtief auf die großen Windparks trifft.

Dann schießt die Leistung der Anlagen innerhalb weniger Minuten von null ins Maximum. Fachleute sprechen von sogenannten Rampenereignissen, weil die Leistung extrem schnell ansteigt. Im umgekehrten Fall kann ein Sturm in Windeseile abflauen – dann geht es rapide von der maximalen Leistung auf null.

Zusammen mit der Universität Oldenburg, dem DLR und anderen Partnern testet Matthias Lange derzeit in dem Projekt „Windramp" Laser, die Rampen künftig früher erkennen sollen. Dafür wurden sogenannte Lidar-Systeme (Light detection and ranging) auf einigen Windrädern in der Nordsee installiert.

Diese jagen alle 20 Millisekunden einen Laserblitz in die Ferne, um Sturmfronten zu entdecken, ehe diese auf den Windpark treffen. Der Laserblitz wird von Luftmolekülen und Aerosolen reflektiert. Da die Bewegung der Moleküle die Reflektion des Laserlichts beeinflusst, lässt sich aus dem zurückgeworfenen Licht die Geschwindigkeit des Windes ablesen. Das Projekt soll zeigen, wie gut und vor allem wie früh sich damit Sturmfronten detektieren lassen.

In der aktuellen Forschung geht es aber nicht nur um große Solar- und Windparks. Wichtig ist es auch, die Leistung der vielen kleinen Photovoltaikanlagen besser abzuschätzen, die auf immer mehr Wohnhäusern installiert werden. Denn auch sie bringen es auf eine große Leistung. Schiebt sich etwa Hochnebel über die Schwäbische Alb, dann können in wenigen Minuten Hunderte Megawatt Strom wegbrechen.

Stefanie Meilinger von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg hat zusammen mit ihren Mitarbeitern einen ungewöhnlichen Weg gefunden, um das Nowcasting für diese Photovoltaikanlagen zu verbessern: Sie macht die Anlagen zum Strahlungssensor. „Photovoltaikanlagen nutzen ja permanent die Sonnenstrahlung, um Strom zu produzieren", sagt die Professorin für Nachhaltige Technologien. „Da kann man diese Stromdaten zugleich nutzen, um die Intensität der Sonnenstrahlung zu messen – und diese Information für die Leistungsprognose nutzen." Doch was so simpel klingt, bedurfte einiger Vorarbeit. Zunächst mussten Stefanie Meilinger und ihre Mitarbeiter genauer untersuchen, wie Solarzellen bei unterschiedlichem Wetter auf die Sonnenstrahlung reagieren.

Es gibt viele verschiedene Solarzellen-Typen, die aus unterschiedlichen Materialien gefertigt sind und die auf unterschiedliche Wellenlängen des Sonnenlichts ansprechen. Daher mussten die Forscher zunächst messen, wie viel Strom welche Solarzelle bei bestimmten Lichtverhältnissen produziert – etwa auch, wenn die Luft viel Staub oder viel Wasserdampf enthält. Mittlerweile konnte das Team um Stefanie Meilinger zeigen, dass das Konzept aufgeht. Tatsächlich eignen sich Photovoltaikanlagen als Sonnensensor. Für das künftige Nowcasting würde es reichen, einige wenige Anlagen in einer Region um die Sensorfunktion zu erweitern. Sie könnten dann beispielsweise rechtzeitig melden, ob Hochnebel aufzieht. Auch für die Kombination von Photovoltaik und Batteriespeichern oder Elektroautos ist ein solches Sensornetzwerk sinnvoll. „Man kann die Akkus dann besonders batteriefreundlich laden, was die Lebensdauer erhöht", sagt Stefanie Meilinger. „Je nachdem, wie die Wolken ziehen, könnte man gezielt Strom ins Netz oder in den Akku einspeisen."

Auf dass Nebelfelder oder blauschwarze Gewitterfronten ihren Schrecken verlieren

Solche Vorhersagen sind künftig vor allem für die Verteilnetze in den Städten und Dörfern wichtig. Diese waren ursprünglich dafür konzipiert, Strom nur in eine Richtung zu transportieren – vom Kraftwerk zu den Häusern. Mit den vielen Photovoltaikanlagen aber fließt immer mehr Strom in die entgegengesetzte Richtung – zurück ins Verteilnetz. Für die Energieversorger vor Ort wird es daher immer aufwendiger, den Strom in den kleinen Trafos im Stadtgebiet und an den Umspannwerken zu regeln und mit dem übergeordneten Stromnetz abzustimmen. „Ein zuverlässiges Nowcasting würde ihnen die Arbeit sehr erleichtern", sagt DLR-Forscher Jonas Stührenberg. Wie Stefanie Meilinger hat auch er die vielen kleinen Photovoltaikanlagen im Blick, von denen es auch zwischen Ostfriesland und Oldenburg immer mehr gibt. Noch ist sein „Eye2Sky"-Netzwerk reine Forschung. Schon bald aber könnte so ein Netzwerk zu einem wichtigen Nowcasting-Werkzeug werden. Ein Anfang ist gemacht: Derzeit werden erste einzelne Skykameras in Solarparks installiert; also dort, wo es ohnehin schon Datenleitungen zu den Prognoseexperten gibt – auf dass Nebelfelder oder blauschwarze Gewitterfronten ihren Schrecken verlieren.

Text: Tim Schröder, Infografik: Sead Mujić
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München

powered by webEdition CMS